Pavel Kohout
Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel
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Wiener Zeitung
Sa./So., 4./5. Juni 2011
Presseartikel
Gerda gleicht Goliath gepaart mit Gepard…
Dieser Titel soll eine Grabinschrift sein. Ich bin ein Einzelkind. Und trotzdem ist jetzt in Wien meine Schwester gestorben.
Als uns das Schicksal in Gestalt der Husák´schen Grenzsoldaten im Jahre 1979 nach Österreich verschlug, hatten wir dort viele Verbündete, aber keinen Freund. Damals tauchte SIE auf unserer Lebensbühne auf. Die rechte Hand des bekannten österreichischen Architekten Roland Rainer, immerwährend schlank und von einer besonderen Schönheit, wie sie Frauen der Intellekt verleiht, lernte in seinem Atelier zuerst meine Schwägerin kennen, eine der ersten Unterzeichnerinnen der Charta 77, und diese führte sie zu uns. Als wenig später auch mein Sohn und seine Frau und sein Sohn aus demselben Grunde die ČSSR verlassen mussten, wurde sie zur ersten Reiseleiterin der Tschechen im Irrgarten eines zwar demokratischen Landes, das allerdings umso mehr auf der Einhaltung von Gesetzen, Bräuchen und Regeln basierte.
Mit ihren dreiunddreißig Jahren war sie mit einem durchdringenden Alt und einer nie erschöpfenden Energie ausgestattet. Sie erinnerte an die Barrikadenkämpferin auf dem Bild von Delacroix, doch war sie nie Revolutionärin oder Emanze, sie schien nur geboren worden zu sein, um ihren Nächsten zu helfen – ob es ihnen nun gefiel oder nicht! Dieser Zusatz mag vielleicht wie eine Missachtung klingen, doch sie konnte einfach jemanden, der sich durch sein Schicksal brechen ließ, nicht ausstehen, und manch einen rüttelte sie schroff aus der Gleichgültigkeit eines Geschlagenen zu Courage auf.
Ihre praktische Hilfe kannte keine Grenzen. Als ich mich entschloss, die deutsche Fassung des Romans vom begrabenen Hund wesentlich zu ändern, borgte sie sich diese dreihundertfünfzig Seiten, von überklebten Stellen, Streichungen und Nachträgen verunkrautet, sie wolle diese im Urlaub lesen. Vierzehn Tage später brachte sie eine saubere, druckreife Abschrift vorbei. Sie hatte nach Scharm al Scheich zusammen mit dem Badeanzug auch eine Schreibmaschine mitgenommen und acht Stunden pro Tag den Text abgetippt.
Als Rainer aufhörte zu arbeiten, war sie lange Zeit ohne Arbeit, wenngleich sie Ideales zu bieten hatte, denn sie war geschieden, kinderlos und beherrschte neben der deutschen Stenographie auch noch die englische, doch es waren junge Busenwunder in Mode. Ich schrieb für sie Inserate und Empfehlungen, doch vergebens, für alle war sie zu alt, bis sie, als sie in brillanter Art und Weise den zehnten Jahrestag der Charta in Wien organisiert hatte, Karel Schwarzenberg begegnete. Er hatte gerade eine weitere Nutzlose entlassen und stellte sie „als Vertretung“ ein. Er hatte Glück, dass er sie gleich am ersten Tag bitten musste, seine Reise in die Schweiz zu stornieren, denn in der Nacht hatte man ihm samt Geld auch die Papiere, Flugtickets und Geldkarten gestohlen. Am Abend flog er wie vorgesehen, da sie ihm für alles Ersatz beschafft hatte. Ab diesem Tag bis zum vergangenen Samstag war sie Direktorin der fürstlichen Büros. Nachdem sie dies geworden war, sprach sie eine Bitte aus, der er entgegen kam: bei der nächsten Festlichkeit im Palais stand sie neben ihm und bekam Handküsse von den Bossen, die sie vorher abgelehnt hatten. Unrecht zahlte sie nur mit Witz und Charme heim.
Als Václav Havel in Prag seinen fünfzigsten Geburtstag feierte, schickten wir sie von Wien aus mit einem Koffer voller Käse zu ihm. Sie wirkte so souverän, das die Leute von der Staatssicherheit nicht einmal einen Ausweis von ihr verlangten. Als der eiserne Vorhang fiel, lernte sie innerhalb weniger Wochen recht ordentlich Tschechisch. Die Ärzte schickten den neuen Präsidenten zu einer Kur nach Deutschland, damit er sich vom Gefängnis und vom Dissent erhole. Unter einem Decknamen war er einen Monat zur Kur, und weil er niemanden von seinem Büro dabei hatte und keiner vom Personenschutz deutsch konnte, war sie bei dieser geheimen Mission die einzige Verbindung zur unbekannten Umgebung. Eine Woche später auf der Burg erkannte er sie schon nicht mehr. Sie entschuldigte ihn ganz in ihrem Stil – Er hat wohl Wichtigeres zu tun…
Ihre Leidenschaft war es, Talente zu entdecken und diese auf die Umlaufbahn zu befördern. Mindestens ein Dutzend - Maler, Musiker, eine Schauspielerin und ein Dirigent, verdanken ihren gelungenen Start der Tatsache, dass sie sie ermunterte, propagierte und von ihrem Gehalt unterstützte, das angesichts dessen, dass sie für drei arbeitete, nicht berauschend war. Legendär waren die Geburtstagsfeiern ihrer Freunde, bei denen sie zu einer Regisseurin immer wieder anderer Überraschungen mutierte. Ich wollte meinen Sechzigsten allein mit meiner Frau feiern. Sie organisierte für uns ein Hotelzimmer im Kloster Geras, wo dann fast alle Freunde aus Europa auftauchten und Abt Angerer mir einen ökumenischen Gottesdienst bescherte.
Ihre absolute Loyalität und Nähe zum Fürsten erweckten bei dessen Beamtenschaft in Österreich und in Deutschland Unwillen, umso mehr als diese von Leistung unterlegt waren, an die die Neider nicht herankamen und es auch nicht wollten, denn der Fürst war ebenfalls bekannt für sein Vertrauen in geschickte Parasiten. Die „Schwarzenbergischen“ hatten zu ihren Obrigkeiten traditionell eine gute Beziehung, weil diese ihre Leute achteten. Auch der letzte Wildhüter wurde nach einem Vierteljahrhundert Dienst ins Schloss Murau geladen, um vom Fürst persönlich eine Auszeichnung für treue Dienste entgegenzunehmen. Ihr schickte das bestehende Management die Anerkennung per Post. Es war wohl das einzige Mal, als ich bei ihr Tränen sah, die sie schnell mit dem trockensten aller Grünen Veltliner trocknete.
Gezeichnet von Krankheiten, Krieg und Pubertät habe ich mich in meiner Jugend nach einem Geschwisterkind gesehnt, dem ich alle meine Träume und Ängste anvertrauen könnte. Als ich das Gewünschte in ihr gefunden hatte, erklärte ich sie zu meiner „späten Schwester“, der auch die deutsche Ausgabe meiner Autobiographie gewidmet ist. Wir bewerteten unsere als auch andere Leben mit der Gewissheit, dass bei uns beiden alle Geheimnisse enden. Deshalb werde ich nie ihre Erlebnisse aufzeichnen, die sicher ein Bestseller würden; ich lasse sie auf ewig in meinem immer noch funktionierenden Gedächtnis gespeichert bleiben.
Nachdem sie im Dezember begriffen hatte, dass ihr nur noch ein paar Wochen zu leben blieben, schaffte sie es noch, ihren langjährigen Freund zu heiraten und sich sämtliche leere Aufmunterung als auch eine prunkvolle Beerdigung zu verbieten. Sie wollte von ihm der Donau übergeben werden …
Zum Sechzigsten schrieb ich ihr eine Gratulation in deutscher Sprache, die vom Buchstaben G überquoll. Auf einer Seite waren es zweihundertzwanzig. Darin enthalten war auch der obige Titel. Meine späte Schwester Gerda Neudeck, in ihrem Fach ein Star, starb am Mittag des 22. 2. 2014. Doch wie Physiker bestätigen – auch tote Sterne strahlen weiter!
Aus dem Tschechischen Silke Klein
Pavel Kohouts
271. Trilobit
für die meistgelesene tschechische Tageszeitung Mladá fronta DNES 1. 3. 2014
Abschied von Wien
Für die später Geborenen: Im Jahre 1947 schlugen die unterernährten Hockeyspieler Österreichs – das als zwar erstes Opfer von Hitler, im weiteren Verlauf aber schon als dessen treuer Verbündeter erstmals seit dem verlorenen Krieg zu einer Weltmeisterschaft nach Prag reisen durfte – die favorisierten Schweden und verhalfen so den Tschechoslowaken zum Titel. Die begeisterten Fans förderten in Sonderschichten Kohle und schickten sie mit Kartoffelzügen den frierenden und hungernden Nachbarn.
Österreich, das sich dank seiner herausragenden Politiker gegen die Stalinisierung zu wehren wusste, war durch den Marshallplan, den Stalin den Tschechoslowaken verwehrte, bereits 1956 in der Lage, Tausenden Ungarn, die nach dem blutigen Ende des antisowjetischen Aufstandes flohen, als Umsteige- oder sogar Endstation zu dienen. Bis zum Ende des Jahrhunderts half es Tausenden Tschechen und Slowaken nach der Invasion der Armeen des Warschauer Pakts, Tausenden Polen nach der Ausrufung des Ausnahmezustands und Tausenden Flüchtlingen aus Jugoslawien, das von einem Krieg aller gegen alle gebeutelt wurde.
Unter Kanzler Kreisky wurde es auch für die Unterzeichner der Charta 77, seien diese freiwillig emigriert oder hierher vertrieben worden wie wir, zu einer neuen Heimat. Für diejenigen, die das Deutsch ausreichend beherrschten, war vor allem Wien ein echtes Zuhause, aufgrund seiner Geschichte, Architektur und der Art und Weise zu leben; ein wesentlicher Vorteil allerdings lag in der schon Vierteljahrhundert funktionierender Demokratie. Die Exilanten kehrten deshalb nach dem politischen Urknall 1989 ohne die Illusion nach Hause zurück, dass mit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch Hindernisse wie die Schwächen der menschlichen Charaktere und die Last schlechter Angewohnheiten fallen würden, durch die der falsche Sozialismus zwei Generationen Tschechen geschädigt hat. In Österreich hatte man gelernt, dass man für Freiheit und Wahrheit ewig kämpfen muss, in welchem System auch immer.
Im Unterschied zu den böhmischen Ländern, wo berühmte Stämme wie die Choden oder Hannaken nur eine langsam versiegende Spur des Wortschatzes, der Aussprache und der Folklore hinterließen, ist Österreich bis heute ein Sammelbecken mehrerer eigenständiger Völker, die sich für das Ohr durch Sprache, für den Geruchssinn und den Geschmack durch Küche und für das Auge sogar durch modernisierte Trachten unterscheiden. Gewaltsam vereint wurden sie durch die Monarchie und dann auch den schicksalhaften Bund mit Nazideutschland. Danach aber erlebten alle Österreicher das geschichtliche Glück, bei der Aufteilung Europas unter den Kriegssiegern das Statut eines neutralen Staates zu erhalten, das es ihnen ermöglichte, in die Gemeinschaft der freien westlichen Länder hineinzuwachsen.
Als sich im Jahre 1989 die Grenzen öffneten, kehrten einige Exilanten nur halb nach Prag zurück. Sie empfanden es als eine Pflicht gegenüber dem Land, das sie in der Not aufgenommen hatte, den Heißhunger seiner Politiker, Wirtschaftsleute und Medien nach Informationen über die Tschechoslowakei und nach der Herstellung von Kontakten im Land zu stillen. Sie erwarteten, dass der österreichische Staat sein Integrationstalent anwenden und den neu erstandenen Nachbarn bei ihrer schwierigen Rückkehr nach Europa mit Tat und Rat helfen würde. Dies geschah jedoch leider nicht.
Nach Bruno Kreisky gab es keinen Politiker seines Formats mehr, und seine Nachfolger konnten sich lange nicht gegen die billigen Leidenschaften wehren, die von Populisten wegen Temelín und von Militanten aus den Sudeten wegen der Beneš-Dekrete gegen die Tschechen geschürt wurden; es drohte sogar das österreichische Veto gegen den Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union. Was in der Politik zerschlagen wurde, machten dann jedoch auf beiden Seiten die Bürger selbst vor allem dort wieder wett, wo sie im direkten Kontakt standen. Grenzstädte werden zu Nachbardörfern, es mehren sich grenzüberschreitende Eheschließungen, Taufen und Beerdigungen, hoffentlich wird es auch irgendwann dazu kommen, dass man sich gegenseitig Maibäume stiehlt…
Die selbsternannten Missionare, die zwanzig Jahre zwischen Wien und Prag pendelten, sahen ein, dass sie überflüssig waren. Und wenn jemand in Wien den Sohn mit seiner Frau und auch noch den Sohn des Sohnes zurücklässt, der bereits in der österreichischen Armee gedient und unter die Wiener eingeheiratet hat, darf er hoffen, dass er wirklich stark verbunden bleibt. Husáks Husaren haben uns gewaltsam nach Österreich gebracht, somit riefen sie statt Wehmut gesunde Wut hervor. Der Weggang aus Österreich ist freiwillig, somit ist Wehmut erlaubt.
Vor fünfunddreißig Jahren, als uns das Schicksal dahin verschlug, trug die Stadt an der Donau noch die Spuren des Krieges, und das Zentrum, wo wir wohnten, erinnerte uns an den ehemaligen Prager Hradschinplatz in den Abendstunden, nur dass einsame Fußgänger dort oft von Polizisten legitimiert, während hier regelmäßig von Prostituierten angelockt wurden. Auf dem Kohlmarkt gab es einen Metzger, einen Friseur, ein Kolonialwarengeschäft, einen Buchhändler, einen Schuster und das altehrwürdige Cafe Arabia; heute teilt dieser Ort das Schicksal der Pařížská-Straße in Prag, alles Normale wurde ersetzt von „FetzenFetzenFetzen“, Parfüms und Schmuck. Unter den Antiquitäten überlebte neben dem Demel auch der Gourmettempel Meinl; im Unterschied zu dem neuen in Prag, wo es einen Monat nach der Eröffnung zwei Verkäufer pro Kunde gibt, herrscht hier fast ständig Gedränge, denn die Preise sind nicht meilenweit von den Durchschnittsgehältern entfernt, und das Personal kennt seine Waren wie beispielsweise Käse nicht nur vom Sehen, sondern auch vom Geruch und Geschmack her.
Die damalige Idylle ist so wie an der Moldau dahin, das Verschwundene wird jedoch von dem ausgeglichen, was Wien weiterhin unverwechselbar zu Wien macht. Optisch die ständig erneuerte Sauberkeit und die unzähligen Fiaker, die für die Einhaltung der dreißig Kilometer Stundengeschwindigkeit im Zentrum wirksamer sorgen als Polizisten. Das Wichtigste allerdings ist, dass die Donaumetropole nicht hetzt. Die Einheimischen bewegen sich hier im Tempo von Touristen, und die Mittagspause und das Arbeitsende werden hier direkt zelebriert in Cafés und Weinstuben, die überwiegend auch für die armen Raucher eingerichtet sind. Es ist ein Erlebnis, sowohl in berühmten Restaurants als auch an den Straßenwürstelständen zu speisen, im Vergleich mit Prag wird man so gut wie nie betrogen und bestohlen. Hunde sind überall willkommen, in den Geschäften werden sie an der Kasse geparkt.
Beim vorweihnachtlichen Punsch im Stehen am Lions-Stand am Graben sahen wir in der Menschenmenge zwei Herren zu Meinl schreiten, und einer kam uns irgendwie bekannt vor. Hallo, Heinz! riefen wir versuchsweise, und beide kamen sofort zu uns herüber; der andere wartete dann ein Stück abseits, bis wir mit Heinz Fischer zu Ende geplauscht und er uns zum Abschied umarmt hatte. Das ist aber ein schöner Brauch, erachtete es meine Frau Jelena, dass, um sich von Tschechen zu verabschieden, sich selbst der österreichische Bundespräsident sogar hierher bemüht. Tu, felix Auastria…!
Dann verabschiedeten wir uns von niemandem mehr, den wir hier gern gehabt hatten. Sie sind uns ans Herz gewachsen, und so reisten sie nach Tschechien mit.
Pavel Kohouts 266. Trilobit
für die meist gelesene tschechische Tageszeitung
Mladá fronta DNES
25.1.2014
Aus dem Tschechischen Silke Klein
Neue Züricher Zeitung - Standpunkte
Das Geheimnis von Weiden
Sehr geehrter Leser, lass dich nicht vom unschuldigen Beginn in die Irre führen, am Ende gelangen wir zum tschechisch-deutschen Krimi, zu einem Mord, der vielleicht keiner war und trotzdem einen Selbstmord auslöste.
Es war im Herbst 1965, als ein Team des Theaters in den Prager Weinbergen, das vorher einen überwältigenden Erfolg der Bühnenaufführung von Čapeks Roman Krieg mit den Molchen in Prag gefeiert hat, mit dem Autor nach Dortmund kam, um die deutsche Fassung auf die Bühne des Schauspielhauses zu bringen. Die Abende verbrachte man in einer gemütlichen Kneipe, wo dem Dramatiker die Idee kam, das Stück August August, August zu schreiben. Vor der Prager Uraufführung verklagte ihn ein hoher tschechischer Funktionär, es habe ihn gekränkt, dass sein Name Holzknecht im Stück dem Zirkusdirektor zugewiesen wurde, der den Helden von Tigern zerfleischen lässt. Bis die Speisekarte belegte, dass dies der Name des Dortmunder Lokals gewesen war, in dem den Autor die Muse geküsst hatte.
Im Herbst 2012 ist das Restaurant Holzknecht eines der besten im Ruhrpott, und der Dramatiker traf hier andere Landsleute, die zur vierten Reprise der Feierlichkeiten anlässlich des tschechischen Siebzehnten Novembers gekommen sind, an dem die „samtene Revolution 1989“ ausbrach. Die zweihundertköpfige Repräsentanz der Stadt hat die Botschafter der Tschechischen Republik in Berlin und Bern, Jindrák und Lazar, eingeladen, auf dass das Kulturprogramm eine politische Dimension erhalte. Für den auftretenden Autor, der als Junge die deutsche Okkupation und ihre grausamen Folgen erlebt hatte, war dieser Abend eine Bestätigung dafür, dass über die Traurigkeit ob der lächerlichen Kleinkriege tschechischer Politiker die Freude über den gesamten Kontinent siegt, dessen einstige Kriegsfelder jetzt nur friedliche Ernten hervorbringen.
Die Tschechen können mit Recht behaupten, dass trotz des Widerstands zweifelhafter Patrioten, für die sich auch die Nachkriegsmörder von Frauen und Kindern ausgeben, von nirgendwo mehr versteckte Leichen deutscher Zivilisten auftauchen können, was nichts an dem allgemeinen Konsens ändert, dass die Deutschen mit ihrem Verrat der demokratischen Republik und ihrem Wüten im Krieg ihre Aussiedlung „heim ins Reich“ selbst besiegelt haben. Um stete Untersuchung der Nachkriegsverbrechen kümmern sich tschechische Historiker, Journalisten, Politiker und Richter, und erwarten Gleiches von ihren deutschen Partnern. Und da sind wir bei dem Drama aus dem Jahre 1972.
Zehn junge Tschechoslowaken, die von dem hart prosowjetischen Regime wegen ihrer langen Haare und heißer Liebe zu westlicher Musik schikaniert wurden, hatten die Entführung eines Kleinflugzeuges auf der Strecke Marienbad – Prag eingefädelt. Damals war es nicht schwer, eine Pistole an Bord zu schmuggeln, und mit ihr zwang der zweiundzwanzigjährige Student Adamica den Flugkapitän Mičica zu einer Richtungsänderung. Im engen Cockpit kam es zum Gerangel, bei dem der Pilot durch einen Schuss ums Leben kam. Nach der Landung bei Weiden nahm die bayerische Polizei die Gruppe fest. Im Protokoll, das unmittelbar angefertigt wurde, stand, dass die Bahn der Kugel vom Hals aus nach unten verlief, und der Täter wurde deshalb als Mörder bezeichnet. Die tschechischen Medien nutzten dies zu einer Massenkampagne gegen die Opposition und Fluchtwillige im Besonderen. Die deutschen Medien schlossen sich wegen der erdrückenden Beweislast an. Statt des Ruhmes, den die Freiheitssuchenden normalerweise erfuhren, wurden diese Flüchtlinge als Luftpiraten gebrandmarkt und erhielten hohe Strafen. Im verzweifelten Brief schwor der Student, der die Waffe gehalten hatte, den Eltern, er habe nicht geschossen - und hat sich in seiner Zelle erhängt.
Doch der Fall lebte nach vierzig Jahren wieder auf, als der junge tschechische Initiator des Projektes „Gedenkstätte tschechoslowakischen Exils“, Petr Vrána, überprüfen wollte, wer die Entführer waren und wie ihr Schicksalsflug verlaufen war. Es stimmte nur, dass sie zur damaligen Szene der „Máničky“, der tschechischen Vor-Hippies, gehörten, wo auch Drogen im Spiel waren. In drei Jahren akribischer Suche wurden Beweise gefunden, dass alles Übrige anders gewesen war. Der Forscher ergänzte sie um eine neue Expertise tschechischer Kriminalisten und stellte sie im Frühjahr dieses Jahres in der Prager Galerie DOX aus. Darauf tauchte in den Archiven auch das bisher geheim gehaltene Obduktionsprotokoll aus Prag auf, und hier beginnt der echte Krimi:
Aus diesem Bericht geht das genaue Gegenteil der Behauptung seitens der bayerischen Organe hervor, nämlich: die Kugel hatte den Hals des Piloten nicht von oben durchschlagen, sondern sie war von unten nach oben geflogen, als der Kapitän versuchte, den Entführer zu entwaffnen, was wieder Abschlürfungen auf seiner Hand bewiesen; dabei hatte sich der Schuss gelöst!
Deswegen war es vielleicht kein Mord, sondern ein Totschlag, an dem der mutige Pilot einen tragischen Anteil hatte.
Es erscheint deswegen ungewöhnlich, dass die Weidener Justiz schon nach der vorläufigen Obduktion und vor dem Ende aller Verhöre sogar das Wort „Hinrichtung“ verwendete.
Es erscheint seltsam, dass der Leichnam und das Flugzeug gleich am anderen Tag in die ČSSR zurückkehrten, in Weiden jedoch die Uniform des Piloten und Gewebeproben von angeblichen Eintritts- und Austrittsstellen des Projektils zurückblieben, die den tatsächlichen Hergang der Tat hätten belegen können, was allerdings in der Verhandlung nicht passierte.
Und es erscheint verdächtig, dass der bayerische Oberstaatsanwalt Meier so eng mit der Prager Staatssicherheit zusammenarbeitete, dass in der Anklageschrift Charakteristika der Abzuurteilenden aus den tschechischen Medien auftauchten, bis hin zu der Formulierung „sie sind geflohen, um auch im Westen ihr ungezügeles Leben führen zu können.“
Einem Zeitzeugen, der die Unterlagen liest, drängt sich eine Erklärung auf: Nur vier Jahre nach der Niederschlagung des politischen „Prager Frühlings“ können wenig informierte Bayern immer noch Gustáv Husák als Krisenmanager betrachtet haben, dem man nicht Probleme machen durfte; und die tschechischen Langhaarigen haben sie vielleicht genauso empört wie ihre eigenen, die in diesen Jahren gegen das politische System des Westens rebellierten. Ganz sicher muss jetzt geklärt werden, ob im demokratischen Westdeutschland in diesem Fall, der so viele Leben aus der Bahn geworfen hat, die Wahrheit nicht zur Lüge umgedichtet wurde, auch wenn dies in einem „höheren Interesse“ erfolgt sein mag. Auf konkrete Fragen des Faktensammlers haben es die bayerischen Behörden unter Berufung auf den Datenschutz abgelehnt zu antworten.
Dieser Text geht deshalb in deutscher Fassung gleichzeitig an Seine Exzellenz den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Prag mit der Bitte ihn den richtigen Stellen zuzuleiten. Also: Fortsetzung folgt!
Aus dem Tschechischen übersetzt von Silke Klein
Pavel Kohout 19. 11. 2012 für Mlada fronta DNES
"Nach Freiheit sehnt sich nur, wer sie nicht hat"
Wiener Zeitung | Sa./So., 4./5. Juni 2011 | Eva Stanzl
Der tschechische Schriftsteller Pavel Kohout blickt auf das 20. Jahrhundert zurück, lobt die derzeitige Europäische Union im Vergleich mit den kommunistischen Systemen und denkt über die politische Funktion der Literatur nach.
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Ach, Václav
jetzt ist vor dir der lezte aller Vorhänge gefallen, jener aus Eisen, der am Ende einer Vorstellung schon nicht mehr hoch geht, aber die Bravo- und Buhrufe haben erst begonnen und werden nie verstummen, wie dem so ist im „theatrum mundi“, dem Theater der Welt. Das Stück, das Du gerade zu Ende verfasst hast - Dein Leben - ist wie vom Meister Aristoteles geschrieben. Die Exposition: Ein Kind, das nichts darf. Die Kolision: Ein Bursche, der alles will. Die Krise: Ein junger Mann, der gehasst wird. Die Kollision: Ein reifer Mann, der geliebt, aber trotzdem auch gehasst wird. Und die Katastrophe? Beflissene Theatermenschen wissen, dass die antiken Katastrophen gar nichts mit den normalen Pleiten und Debakeln des täglichen Lebens zu tun haben. Über den Ausmaß und den Wert einer antiken Katastrophe, über die Schuld und Sühne eines jeden Protagonisten entscheidet ausschließlich die Katharsis, das summa summarum von allem, was er gelebt, gedacht und getan hat, und dadurch die Erkenntnis der absoluten Wahrheit. Mit diesem Urteil stürzen dann die Götter den Verbrecher in ewige Verderbnis oder aber sie heben ihn als Held auf den Olympos empor.
Auf zum Abgang!
Fifi